– – – – – – –  Die Alpen im Rücken und München vor der Tür: Wörthsee liegt so schön, dass viele Großstädter für einen Tag in der Natur in der kleinen Gemeinde vorbeischauen. Und manche wollen bleiben: In den letzten drei Jahrzehnten ist die Bevölkerung um ein Drittel angewachsen. Die Bürgermeisterin von Wörthsee, Christel Muggenthal, will unbedingt vermeiden, dass ihr Dorf sich zu einem exklusiven Vorort der bayrischen Hauptstadt entwickelt – und setzt auf eine inklusive Ortsentwicklung.

Vor über dreißig Jahren zog Christel Muggenthal nach Wörthsee. Mit ihrem Mann hatte sie einen Ort gesucht, der für die junge Familie mit ihren vier Kindern besser geeignet ist als die verkehrsumtoste Straße ihres Münchner Viertels. Wo die Kinder einfach mal rauskönnen, der Blick ins Grüne geht und die bayrische Hauptstadt immer noch gut mit dem Auto zu erreichen ist. 25 Kilometer westlich wurden sie fündig. Die Gemeinde ­Wörthsee liegt nicht nur nah der Autobahn, sondern auch nah des namensgebenden und mit seiner türkisblauen Farbe schon fast karibisch anmutenden Gewässers. Christel Muggenthal arbeitete im Buchhandel und engagierte sich in ihrer neuen Heimat im Gemeinderat. Dann stellte sich im Jahr 2014 der langjährige Bürgermeister Peter Flach nicht mehr zur Wahl.

„Das war der Moment, in dem ich mir überlegen musste, was ich jetzt mache: Trete ich noch einmal für den Gemeinderat an – oder will ich Dinge selbst voranbringen und bewerbe mich als Bürgermeisterin?“, erzählt Christel Muggenthal. Sie gewinnt die Wahl – und mit ihr finden zwei kleine Revolutionen statt: Erstmals gewinnt eine Kandidatin der SPD – und Christel Muggenthal ist die erste Frau auf dem Posten.

Für die neue Bürgermeisterin sind Familienthemen von Anfang an ein wichtiges politisches Arbeitsfeld. Wie die Muggenthals Anfang der 1990er-Jahre ziehen auch heute noch viele Familien nach Wörthsee. „Mittlerweile ist es schon fast die Regel, dass beide Elternteile arbeiten. Dadurch hat sich unter anderem ergeben, dass man in Bezug auf Krippenplätze nachbessern muss.“ Wenn sich die Demografie eines Ortes wandelt, müssen sich auch die Strukturen verändern.

Neben den Familien wohnen auch viele Senioren in Wörthsee. Junge Menschen hingegen verlassen die Gemeinde oft nach der Schule, um zu studieren oder eine Ausbildung zu beginnen. Jede Bevölkerungsgruppe steht indes vor individuellen Problemen bei ihrer Suche nach dem passenden Wohnraum.

– – – – – – – Baugrund ist extrem teuer geworden. Für Familien stehen kaum Häuser frei, weil darin noch Senioren leben. Denn die Senioren finden keinen altersgerechten Wohnraum in Wörthsee und bleiben in ihren Häusern, die eigentlich ­sinnvoller von Familien genutzt würden. Und für die jungen Menschen gibt es keine zum ­Budget passenden Apartments. – – – – – – – – – – –

2010 begann die Gemeinde mit der Erarbeitung eines integrierten städtebaulichen Entwicklungskonzeptes (ISEK) – und ging gezielt auf Investoren zu, um mit ihnen über eine Kooperation zu sprechen. Immer im ­Fokus behielt man dabei den erarbeiteten Leitfaden für Wörthsee, wozu die Beachtung der demografischen Entwicklung und die ­Verbesserung der Infrastruktur gehört. „Das ISEK ist wie eine sorgfältig erarbeitete Richtschnur, die eine Linie für die nächsten Jahre vorgibt“, fasst Christel Muggenthal zusammen. Einen Partner fand Wörthsee mit der Quest Baukultur, die gerade in Weyarn einen Supermarkt gebaut und sensibel ins Dorfgefüge eingepasst hatte. Auch das Gelände in Wörthsee war durch seine Lage nicht ganz einfach. Aber: „Quest stellte sich als ein Unternehmen heraus, das Herausforderungen schätzt. Und so entstand im Gespräch schnell die Idee, auf dem Supermarkt zusätzlich ­kleine Wohnungen zu realisieren. Zusammen mit dem Architekten Professor Hermann Kaufmann wurde ein Konzept entwickelt, das den Gemeinderat sofort überzeugt hat.“ Wohnungen auf dem Supermarkt – das spart Baugrund und ­Bauressourcen.

Der renommierte Architekt aus Vorarlberg gilt als Vordenker im Bereich der ­Holzarchitektur. Der lange Block aus Supermarkt und Wohnungs­etage wurde als Holzhybrid geplant und beherbergt eine 900 Quadratmeter große Verkaufsfäche und 21 kleine Wohnungen – vom Bauherrn Starterwohnungen getauft – in Größen zwischen 28 und 63 Quadratmetern. „Wir haben uns im Gemeinderat ganz schnell für den Holzbau entschieden. Denn wir können zwar einem ­privaten Bauherrn keine nachhaltige Bauweise vorschreiben – aber wenn wir als Gemeinde Mitspracherecht ­haben, wollen wir schon in eine umweltbewusste Richtung gehen, und so haben wir gesagt: „Wir fahren mit Holz.“ Der Supermarkt sichert die Infrastruktur, belebt den Ort und bietet jungen Menschen bezahlbaren Wohnraum.

Für Christel Muggenthal und die Gemeinde ist er ein Schritt auf ihrem Weg. Mit dem Ziel: Wörthsee schafft einen gelungenen Spagat vom Münchner Einzugsgebiet mit Tagestourismus zum lebenswerten Ort für alle Generationen. Der Zuzug neuer Bürger soll nicht dazu führen, dass sich die angestammten Wörthseer ihre Heimat irgendwann nicht mehr leisten können.

 

Visualisierung rechts oben: Mit dem Alten Kirchenwirt wird im historischen Ortskern eine zentrale Fläche revitalisiert. / Skizze rechts unten: Das genossenschaftliche Wohnprojekt ist eines von vielen, um den Strukturwandel gezielt zu steuern.

Ein weiteres, von der Gemeinde initiiertes Projekt ist der Kirchenwirt im Ortsteil Steinebach, östlich des Sees. Lange stand das 1904 gebaute und mittlerweile sanierungsbedürftige Haus leer. Für das strategisch gut, weil direkt an einer Kreuzung im historischen Ortskern gelegene Grundstück interessierten sich immer wieder Investoren. „Viele, die bei uns vorstellig wurden, hatten eine konkrete Gewinnerwartung und wollten den Abriss. Irgendwann ist uns klar geworden: Wenn wir das Wirtshaus erhalten wollen und so auch die Ortsmitte stärken, dann müssen wir selber ran“, berichtet Muggenthal.

Als das Grundstück samt Kirchenwirt zur Veräußerung steht, nimmt der Gemeinderat sein Vorkaufsrecht wahr. Heute entstehen hier zwei neue Gebäude mit bezahlbarem Wohnraum, Veranstaltungsfäche und Gewerbe. Gemeinsam mit dem modernisierten und neu verpachteten Gasthaus wird alles zu einem vitalen ­Ensemble, das auch architektonisch eine zum Dorf passende Sprache spricht: Die beiden neuen Bauten wurden in Holzbauweise errichtet und antworten auf die ­lokale Bestandsarchitektur. „Wir haben darauf geachtet, dass die beiden neuen Gebäude dem Altbau nicht die Schau stehlen, und deshalb auf einen dörflichen Baustil gesetzt, der modern weitergedacht wurde und sich auch von der Höhe her gut einfügt.“

Unweit vom neuen Supermarkt ist in Wörthsee mittlerweile auch ein genossenschaftliches Wohnprojekt in Kooperation mit der Münchner Wogeno in Planung. Es soll ein lebendiger Ort für alle Generationen werden. Angelehnt an die Struktur zwe­ier miteinander verwobener Vierseithöfe, sehen die Pläne von Hirner & Riehl Architekten 50 bis 70 Wohnungen mit Gemeinschaftsfächen, Gärten und Coworking-Möglichkeiten vor.

Viele der Wörthseer Bürger haben sich bereits als zukünftige Mieter angemeldet, junge ­Familien, aber auch Senioren. „Da ist das Haus zu groß geworden und der Garten zu anstrengend. Sie wollen aber in ihrem Dorf bleiben. Wenn sie vor Ort umziehen und ihr Haus den Kindern übergeben oder vermieten, entsteht Bewegung im Dorf“, resümiert Christel Muggenthal. Diese Bewegung schiebt viele Dinge in der Gemeinde in die richtige Richtung; schafft belebte innerörtliche Bereiche, Infrastruktur und adäquaten Wohnraum. Planungen und Projekte werden nachhaltig gedacht, im ökologischen, aber auch im entwicklungspolitischen Sinn.

––––––– Wörthsee will ein Ort für alle sein – und antwortet deshalb mit seinen städtebaulichen Projekten jetzt schon auf die Fragen der Zukunft. ––––––––––